Februar 1999 – Üsküdar, Istanbul.
Das Modem: 56k – langsamer als mein Herzschlag, aber viel lauter. Ich hörte das Rauschen wie ein Gebet vor dem Verbindungsaufbau.
Ich loggte mich ein. Kein Avatar. Kein Foto. Nur ein Name:
Smoky857
ICQ war offen, mIRC im Hintergrund.
Ich war 23 – jung, rebellisch und voller kleiner und‘s – weil alles jünger, schöner, leichter klang.
In Üsküdar tippte ich meine Chatzeilen ins Rauschen eines 56k-Modems. Gleichzeitig wurde in Deutschland das erste DSL-Netz getestet.
Wenige Tage zuvor wurde Abdullah Öcalan gefasst. Die Türkei war nervös, die Straßen aufgeladen – ein Land zwischen Angst, Aufbruch und alten Wunden.
Im August kam das große Beben – 17.000 Tote. Während in Deutschland die ersten „Ich-AGs“ geboren wurden, begrub man in Sakarya ganze Stadtviertel.
In der einen Welt sprach man über Atatürk, Kopftücher und Korruption, in der anderen über Globalisierung, Kanzler Schröder und die neue Mitte.
Zwei Länder. Zwei Rhythmen.
Und ich: dazwischen.
Mit einem Bein in der Vergangenheit,
und dem Cursor schon in der Zukunft.
Damals war Chatten kein Scrollen.
Es war Warten. Lauschen. Schreiben mit Herzklopfen.
Keine Hektik. Keine Likes. Nur Tastenschritte durch dunkle Flure.
Ein Satz konnte Freundschaft bedeuten – oder Verrat.
Jede Antwort war ein Wunder. Und jedes Schweigen eine stille Ablehnung.
Dann schrieb jemand:
„Are you ready?“
Nur drei Wörter. Weiß auf Grau. Kein Avatar. Keine Herkunft.
Ich antwortete nicht.
Ich starrte auf den Cursor.
Der blinkte wie mein Herz.
READY_
Nicht als Befehl. Als Zustand.
Wir schrieben nicht, um gesehen zu werden. Wir schrieben, um gehört zu werden.
Ich bin ein Kind der analogen Achtziger. Aufgewachsen mit Kohleeimern, C64-Disketten und verrauschten Telefongesprächen. Und doch war ich von Anfang an Teil des digitalen Aufbruchs.
READY_ ist kein Rückblick. READY_ ist ein Zustand. Ein leuchtender Cursor in mir – blinkend, wartend, bereit.
Dies ist keine nostalgische Romantik über Disketten und Chatrooms. Es ist ein Gefühl, das bleibt: Zwischen Modemrauschen und Mindset. Zwischen Nickname und Identität.
READY_ ist die Geschichte einer Transformation. Und vielleicht auch deine.
1989 – Ruhrgebiet. Kinderzimmer mit Kohle.
Bevor ich READY_ war, war ich nur: da.
Ich war 13, wir lebten in einer 2½-Zimmer-Wohnung – ein türkisches Ghetto, mitten im Ruhrgebiet. Die Heizung: ein Kohleofen. Der Alltag: ein Kompromiss.
Die Straße lebte. An der Kreuzung mit dem Stoppschild traf sich die Bande – halb Kinder, halb Krieger. Hin- und hergerissen zwischen Wahn und Vernunft, zwischen echtem Leben und dem, das wie Gangsterlife roch – aber nie ganz echt war.
Ich war einer der ersten Türken auf einem Gymnasium. Damals fast undenkbar. Auch wenn mein Platz dort wackelig war – er war da.
Bevor ich den Commodore 64 anschließen durfte, musste ich mit meinem Bruder in den Keller. Eimer für Eimer. Schwarze Hände. Roter Atem.
Oben wartete ein Fernseher – nicht smart, nur warm.
Mein Vater brachte den Karton und sagte:
„Al, kur. Bakalım neymiş bu bilgisayar.“
(„Nimm, Junge. Mal sehen, was das Ding kann.“)
Ich riss das Papier auf: Commodore 64.
In der Verpackung: eine Diskette – Soccermaster.
Ich steckte sie ein. Flackern. Warten.
Dann erschien er – der Startscreen.
Soccermaster – geschrieben von Thorsten Wölki, erschienen 1987. Kein FIFA. Kein PES. Kein Gameplay im klassischen Sinn. Ein Fußballmanager – reduziert auf Buchstaben, Tabellen und Träume.
Man wählte seinen Verein mit Pfeiltasten, kaufte Spieler, durchforstete Tabellen, jonglierte mit D-Mark-Millionen. Tore erschienen als Zahlen. Spieler nur als Namen. Und der Bildschirm? Grau. Kein Rasen, kein Stadion. Und doch: Es war unsere Champions League.
Wir saßen stundenlang vorm Fernseher, diskutierten über „stark“ und „sehr stark“, überlegten, ob man Rudi Völler verkaufen sollte – oder doch lieber Maradona holen.
Kein Soundtrack. Kein Jubel. Kein Gameplay. Aber alles war da: Spannung, Stolz, Euphorie. Denn es war unser Spiel – geschrieben für uns.
Heute braucht ein Spiel 4K, Storyline, Multiplayer. Damals reichte: ein Joystick, ein C64, und eine Zeile, in der stand:
„Spielstand nach 25 Spielminuten: 0:1“
Und trotzdem: Es war das schönste 0:1 meines Lebens.
Was hat die Digitalisierung in uns verändert?
Früher standen wir mit Kohleeimern im Keller, heute mit Profilbildern im Licht.
Früher warteten wir auf einen Ladebalken, heute auf Bestätigung.
Früher spielten wir gegeneinander – aber gemeinsam. Heute scrollen wir nebeneinander – aber allein.
Die Technik wurde klüger. Wir wurden glatter. Alles ist verbunden – aber kaum etwas berührt.
Wir haben gelernt, uns zu optimieren – aber nicht, uns zu zeigen. Wir sind ständig online – aber kaum noch da.
Ich weiß nicht, was Haltung heute noch heißt. Aber ich erinnere mich, wie sie sich mal anfühlte: Nach Kohle. Nach Wärme. Nach echten Sätzen. Und nach dem Geräusch eines Computers, der bereit war.
„Ready or not, you can’t hide.“
Ein Refrain aus den Neunzigern.
Damals war’s ein Song – heute ist es eine Realität.
Wir, die Kinder der Migration, konnten uns nie verstecken. Nicht in der Schule. Nicht auf dem Amt. Nicht auf der Straße. Wir mussten doppelt so gut sein, um halb so viel gesehen zu werden. Das ist kein Gejammer. Das ist Statistik.
Und trotzdem: Ich bin dankbar. Dankbar für ein Land, in dem ich nicht nur geboren und aufgewachsen bin, sondern gelernt habe, zwischen den Zeilen zu leben – zwischen Herkunft und Hoffnung. Zwischen Stolz und Schmerz.
Manchmal fühle ich mich fremd. Aber paradoxerweise bin ich genau hier zu Hause. Nicht trotzdem – sondern deswegen.
READY_ ist kein Status. Es ist die Entscheidung, sich nicht zu verstecken. Sich zu zeigen – mit allem, was war und allem, was noch wird.
**** COMMODORE 64 BASIC V2 ****
64K RAM SYSTEM 38911 BASIC BYTES FREE
READY.█
Denn manchmal reicht ein blinkender Cursor, um dich daran zu erinnern, wer du bist – und dass du bereit warst, lange bevor jemand gefragt hat.